Die Kunst des Anfangs - Vom Mut, klein zu beginnen

Habt ihr in den letzten Tagen auch schon ein paar Vögel beim Nestbau beobachtet? Das Nestbauen ist bei vielen Singvögeln ein Ritual der Beziehungsarbeit: Der Meisenmann sucht geeignete Nistplätze, zwitschert laut und flattert auffällig am Eingang und ruft der Meisenfrau zu: „Hier könnte unser Zuhause sein.“ Die Meisenfrau entscheidet sich für einen Mann und ein Nest und beginnt mit dem eigentlichen Nestbau. Sie sucht Moos, Halme, Federn, weiche Pflanzenteile – alles wird sorgfältig gesammelt. Oft sieht man sie minutenlang in derselben Ecke des Gartens zupfen oder kleine Fäden aus einer Dachrinne ziehen. Der Mann bleibt in der Nähe, verteidigt das Revier und bringt auch mal ein Teil vorbei, wenn er was findet. Es dauert mehrere Tage, bis das Nest fertig ist – weich gepolstert, geschützt, manchmal überraschend kunstvoll. Diese Phase ist zwar hoch konzentriert, aber vor allem intuitiv und voller Bewegung. Und sie geschieht jedes Jahr neu – selbst von Paaren, die sich vom Vorjahr kennen.

Wir beobachten dieses Treiben, weil es faszinierend ist. Wie klar alles wirkt. Wie selbstverständlich sie gemeinsam handeln. Klar: In Zeiten großer Neuanfänge, wenn eine neue Beziehung wie ein neues Nest entsteht, fällt das Anfangen leicht. Dann tragen uns Hormone, Euphorie, klare Rollen, ein Ziel. Aber was passiert danach? Wenn das Nest längst bewohnt ist. Wenn Alltag eingezogen ist, Routinen, Selbstverständlichkeiten. Wie gelingt ein Anfang, wenn es keinen besonderen Anlass gibt? Wenn es einfach nur darum geht, wieder in Kontakt zu kommen. Nicht, weil etwas Schlimmes passiert ist – sondern weil man sich ein bisschen verloren hat im Tun. Woher nehmen wir dann die Lust, den Mut, die Kraft, wieder den ersten Schritt zu machen? Darum geht’s im heutigen Paartherapie für zu Hause Newsletter:

Was erwartet euch?

  • Kleine Anfänge und Sätze, die erlaubt sind

  • 3 Methoden zum “Anfangen” aus der Systemischen Paartherapie

  • Video-Tipp: Liebe, Romantik und Alltag - Alain de Botton im Gespräch

  • Im Paid-Abo: Fragebogen zum Thema Romantik im Alltag

Habt viel Spaß beim Stöbern, beim Vögel beobachten und vielleicht ja beim Anfangen. Wir lesen uns hier wieder am 19. April.

Bis dahin wünsche ich euch eine gute Zeit miteinander,

eure Caroline


KI-generiertes Frühlingsidyll mit mysteriösen Vögeln ;)


Ein Anfang muss nicht groß sein

Ein Beispiel aus der Praxis: Sina & Cem

Sina und Cem merken schon länger, dass sich ihre Kommunikation verändert hat – der Ton ist rauer, kleine Kommentare verletzen, auch gegenüber den Kindern. Sie wissen, dass sie gerade unter großem Druck stehen: ihre Jobs, gesundheitliche Themen, Verantwortung für Angehörige, zu viel auf einmal. Eigentlich sprechen sie viel darüber, aber trotzdem wächst die Distanz zwischen ihnen. Sie haben weniger Empathie füreinander und gehen mehr in den Rückzug – Alltagsdinge werden zur Herausforderung. Es kriselt und deshalb kommen sie zu mir und sitzen erschöpft vor mir. Sie haben viel organisiert, um diese Sitzung überhaupt möglich zu machen. Beide arbeiten, beide kümmern sich, beide sind müde – und trotzdem sind sie da. Ich spüre, wie sehr sie bemüht sind, sich gut zu verhalten. Sie berichten klar und gut sortiert von ihren vielen Baustellen. Und dann lasse ich eine kurze Pause entstehen.

Ich: Wenn ihr mal kurz nicht über eure Themen nachdenkt – sondern einfach nur in diesen Moment spürt: Wie fühlt es sich an, jetzt gerade hier zu sitzen? Lasst euch ruhig einen Moment Zeit.

Cem (zögernd): Irgendwie komisch.

Sina (nach kurzem Lächeln): …aber gut komisch.

Ich: Warum?

Sina: Weil wir sonst gar nicht so lange am Stück ruhig miteinander sind.

Cem: Weil wir sonst immer gleich ein Ziel haben. Oder ein Problem.

Ich: Und wenn das heute einfach mal nicht so sein muss?

Stille.

Wenn wir vor einem Berg stehen – einer Krise, einem Wunsch nach Veränderung, einer Beziehung, die sich fremd anfühlt – wirkt der erste Schritt oft wie eine Expedition. Wir glauben, er müsste mutig, sichtbar und „wirksam“ sein. Aber ganz oft sind es die kleinsten Bewegungen, die den Unterschied machen. Nicht der Marsch zum Gipfel, sondern der Moment, in dem man die Schuhe anzieht. Oder sich aufrichtet. Oder atmet.

Kleine Anfänge, die etwas bewegen können:

  • Fünf Minuten gemeinsam in der Küche stehen – ohne etwas zu tun

  • Eine Notiz oder Sprachnachricht hinterlassen – ohne Anlass

  • Etwas Gemeinsames anschauen (alte Fotos, Urlaubspläne, ein Video)

  • Einander beim Zähneputzen zulächeln

Satzanfänge, die erlaubt sind:

  • „Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll…“

  • „Ich hab das noch nicht ganz sortiert, aber…“

  • „Ich will nur kurz was sagen – du musst nicht sofort antworten.“

  • „Ich merke, ich will mit dir reden, aber ich weiß noch nicht genau, worüber.“

  • „Ich weiß nicht, ob das der richtige Moment ist… und trotzdem…“

  • „Ich bin mir unsicher, ob das wichtig ist – aber es beschäftigt mich.“

  • „Ich hab heute viel an uns gedacht.“

  • „Ich glaube, ich brauch gerade mehr Nähe, weiß aber nicht wie.“

  • „Kannst du einfach kurz nur zuhören, ohne etwas tun zu müssen?“

  • „Ich würd gern einen kleinen Anfang machen – vielleicht reicht das ja schon.“

Vielleicht braucht es am Anfang gar nicht mehr als das: Fünf Minuten, die sich anders anfühlen. Einen Satz, der nicht perfekt ist, aber ehrlich. Oder einfach nur die Erlaubnis, nicht sofort alles lösen zu müssen.


Nicht müde werden

sondern dem Wunder

leise

wie einem Vogel

die Hand hinhalten.
— Hilde Domin (1959)

Raus aus den Routine-Gesprächen

3 Methoden aus der systemischen Paartherapie

In der systemischen Therapie gibt es Methoden, um Gespräche zu öffnen – besonders dann, wenn es schwerfällt, einen Anfang zu finden. Drei davon möchte ich euch heute vorstellen. Ich bin gespannt, ob und wie sie wirken, wenn ihr sie als Paar oder als ganze Familie ohne Therapeutin ausprobiert. Ihr könnt sie auch allein machen und als Gedankenexperiment sehen, um etwas Abstand vom oben genannten Berg zu nehmen. Wenn ihr mögt, schreibt mir, wie’s lief. Ich freue mich über Rückmeldungen aus eurer Praxis.

1. Zirkuläres Fragen – Perspektiven wechseln

Statt direkt zu fragen: „Wie geht’s dir mit unserem Streit?“ wird gefragt: „Was glaubst du, wie XY das wahrnimmt?“ So entsteht ein Perspektivwechsel – oft mit erstaunlicher Wirkung.

Zu Hause ausprobieren:

Jede*r überlegt sich eine Person, deren Meinung zur aktuellen Situation spannend wäre. Holt euch gedanklich oder mit Stühlen diese Personen in den Raum. Setzt euch abwechselnd auf deren Platz und redet so, als wärt ihr sie. Vielleicht wird’s schräg – vielleicht berührend. Im Zweifel sorgt es für ein bisschen Leichtigkeit.

2. Visualisieren – Dinge sichtbar machen

Wenn Worte fehlen oder sich alles im Kreis dreht, kann es helfen, etwas aufzumalen, zu stellen oder darzustellen.

Zu Hause ausprobieren:

Nehmt euch irgendwelche Gegenstände und legt sie so eng oder weit voneinander, wie ihr euch gerade in der Beziehung fühlt. Malt eine Linie auf eine Papier, die die letzten Monate oder Jahre symbolisiert: „Hier ging’s uns sehr gut – hier ist das und das passiert – und hier sind wir jetzt.“ Ihr müsst keine Künstler*innen sein. Es geht nur darum, sich gemeinsam auf etwas zu beziehen, das sichtbar vor euch liegt.

3. Skalieren – einen Schritt nach dem anderen

Skalenfragen machen Gefühle greifbar: „Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie verbunden fühlst du dich gerade?“ Oder: „Wie stressig ist das Thema XY für dich?“ Das nimmt Druck raus – und öffnet oft ein Gespräch.

Zu Hause ausprobieren:

Stellt euch die Frage gegenseitig – und ergänzt: „Was bräuchtest du, um einen halben Punkt weiterzukommen?“ Es geht nicht um „10“. Sondern um Bewegung.


Video-Tipp:

Liebe, Romantik und Alltag

Alain de Botton im Gespräch

Alain de Botton ist klassisch akademisch in Philosophie ausgebildet, hat sich aber bewusst entschieden, alltagsnah und zugänglich zu arbeiten. Seine Bücher und Vorträge verbinden Theorie, Psychologie und Beziehungspraxis, die berührt und herausfordert. Er bringt Philosophie dahin, wo sie auch gebraucht wird: in unsere Beziehungen, in den Alltag, in die kleinen Krisen des Miteinanders. Für mich ist er oft eine Inspiration, gerade wenn ich mit Paaren arbeite, bei denen es genau um die Alltagsbewältigung geht. In diesem Interview erklärt er, warum Liebe nicht der große Moment mit Blumen ist, sondern der Alltag mit nassen Handtüchern, genervten Blicken und ungeklärten To-do-Listen. Wer echte Nähe will, muss lernen, dass Romantik oft so aussieht: gemeinsam Müll rausbringen – ohne Drama.


Passend zum Interview mit Alain de Botton findet ihr im Paid-Abo einen neuen Fragebogen. Er lädt euch ein, liebevoll auf eure Eigenheiten zu schauen – und zu überlegen, wie ihr über eure kleinen Makel sprecht, ohne euch zu verstecken. Außerdem geht es um die unscheinbaren Momente im Alltag, die oft übersehen werden, aber eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdienen. Weil Liebe eben selten laut ist – aber oft genau da passiert, wo keiner hinschaut. Hier abonnieren:

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Beziehungsstatus: Gespräch mit Bot läuft…